Strom (elektrische Energie) ist wirtschaftlich nicht speicherbar. Nur durch Umwandlung in andere Energieformen und spätere Rück-Umwandlung in Strom ist es wirtschaftlich möglich, elektrische Energie für die Nutzung zu einem späteren Zeitpunkt zu “lagern”. Verbreitet ist eine Umwandlung in mechanische Energie in Pumpspeicherwerken, in elektrochemische Energie in Batterien sowie künftig in chemische Energie, vorzugsweise durch Elekrolyse in Wasserstoff. Alle Technologien bringen nicht nur mehr oder weniger große, energetische Verluste mit sich, sondern sind auch so kostenintensiv, dass der Strom nach der Rück-Umwandlung schnell das Doppelte des zur “Lagerung” verwendeten Stroms kostet.
Diese Besonderheit des Strommarktes bedeutet, dass ein Kraftwerksbetreiber den in seinem Kraftwerk erzeugten Strom – von Ausnahmen abgesehen – nur zeitgleich mit der Erzeugung liefern kann. Der Preis, zu dem er bereit ist, Strom zu liefern, ergibt sich deswegen aus seinen kurzfristigen Grenzkosten, also den variablen Kosten. Zu Preisen unterhalb der Grenzkosten wird niemand freiwillig Strom erzeugen. Umgekehrt bedeutet aber jeder Preis oberhalb der Grenzkosten die Erwirtschaftung eines Deckungsbeitrages und damit eine Verbesserung gegenüber dem Kraftwerksstillstand. Insofern wird ein Kraftwerksbetreiber bereit sein, seinen Angebotspreis notfalls soweit abzusenken. Das gilt völlig unabhängig von der Frage, ob er damit seine Fixkosten erwirtschaftet oder gar Gewinn macht (sofern das Kraftwerk betriebsbereit ist). Nur, wenn er neben den kurzfristigen Grenzkosten nicht auch die anderen laufenden Betriebskosten erwirtschaftet (z.B. Personal), wird er eine Stillegung des Kraftwerks in Erwägung ziehen. Auch dann ist die Frage, ob die Abschreibungen verdient werden, unerheblich, denn die sind auf jeden Fall da.
Es ist schon oft diskutiert worden, wo denn Kraftwerksbetreiber ihre Fixkosten herbekommen. Der Energy-Only-Market scheint hier unzureichend, es wird von einem “Missing Money Problem” gesprochen. Die Gelehrten sind sich uneins, ob die Mark-Ups einen ausreichenden Anreiz bilden, oder ein Kapazitätsmechanismus notwendig ist, um den Neubau von Kraftwerken herbeizuführen.
Die kurzfristigen Grenzkosten der verschiedenen Kraftwerkstypen sind sehr unterschiedlich. Bei PV-Anlagen sind sie praktisch Null, bei Laufwasserkraftwerken ebenfalls, bei Windkraftanlagen resultieren die variablen Kosten aus den Wartungsverträgen und liegen in der Größenordnung von 1 ct/kWh, also viel niedriger als bei fossilen Kraftwerken. Kernkraftwerke haben ebenfalls extrem niedrige, variable Kosten. Über die Gesamtkosten der einzelnen Kraftwerkstypen sagen die variablen Kosten alleine noch nichts aus. Die bislang genannten Kraftwerke haben alle sehr hohe Investitonskosten. Ohne den europäischen CO2-Handel (EU-ETS) würde die Rangfolge der Kraftwerke hinsichtlich ihrer variablen Kosten (Merit order) mit Braunkohlekraftwerken, Steinkohlekraftwerken und Gaskraftwerken fortgesetzt. Das Schlusslicht bilden offene Gasturbinen mit einem sehr geringen Wirkungsgrad und entsprechend hohen Brennstoffkosten. Diese kommen nur in wenigen Stunden im Jahr zum Einsatz. Durch den CO2-Handel kann sich die Reihenfolge von Braunkohle-Steinkohle und Erdgas verschieben.
Bei Pumpspeicherkraftwerken sind die Grenzkosten durch die Kosten des Strombezugs zum Hochpumpen des Wassers und den Gesamtwirkungsgrad (<80%) der Anlage definiert. Pumpspeicherkraftwerke können nur wenige Stunden Strom hochpumpen und nach einer Pause von einigen Stunden für wenige Stunden Strom erzeugen. Liegen die Stromkosten nachts nahe bei Null, lässt sich der Strom tagsüber mit guten Deckungsbeiträgen verkaufen. Werden nachts Gaskraftwerke zur Lastdeckung benötigt, liegen ihre Grenzkosten deutlich über denen dieser Kraftwerke. Der Betreiber eines Pumpspeicherkraftwerks wird stets versuchen, die maximale Differenzen zwischen den Einkaufs- und Verkaufspreisen zu nutzen. Für die Betreiber von Großbatterien gilt das Gleiche, allerdings können diese in Sekunden von Laden auf Entladen umschalten.
Der deutsche Strommarkt ist jedoch kein ganz freier Markt, sondern wird durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) und andere Rechtsnormen und Mechanismen ergänzt. Betreiber von EEG-Anlagen haben gesicherte Vergütungen, weitgehend unabhängig von den Ergebnissen des Spotmarktes. Sie laufen deswegen entsprechend der verfügbaren Primärenergie (Wind, Sonne, Wasser) bzw. kontinuierlich (Biomasse) und haben auch Einspeisevorrang. Abgesehen von Biomasse würden sie aber auch ohne diese Förderung wegen der niedrigen Grenzkosten in der Merit Order ganz am Anfang stehen.
Es ist zudem zu berücksichtigen, dass große thermische Kraftwerke träge sind, d.h. ihre Leistung nicht in vollem Umfang kurzfristig hoch- und wieder runtergefahren werden kann. Es kommen Aufwärm- und Wirkungsgradverluste hinzu. Fossile Kraftwerke (insbesondere städtische Gaskraftwerke) werden mitunter in Kraft-Wärme-Kopplung genutzt, so dass die Kostenkalkulation sich verändert und unter Umständen der Wärmebedarf (z.B. für Fernwärme) die Stromerzeugung vorgibt.
Im Spotmarkt wird stets davon ausgegangen, dass der Strom eines Kraftwerks über das Netz zu den Verbrauchern transportiert werden kann. Dass das tatsächlich nicht unumschränkt möglich ist, hat auf die Ergebnisse am Spotmarkt keinen Einfluss, die Korrektur erfolgt im Nachhinein im sogenannten Redispatch-Prozess.
Insgesamt ergibt sich durch die Grenzkosten die Angebotskurve für jede Lieferstunde nach der Merit Order wie unten schematisch gezeigt. Die Nachfragekurve ist praktisch senkrecht, weil die Stromnachfrage kurzfristig (noch) vollkommen unelastisch ist. Nur ganz wenige Stromverbraucher reagieren bislang auf die Preissignale vom Spotmarkt und passen ihren Verbrauch an. Das muss sich ändern. Aus dem Schnittpunkt von Angbots- und Nachfragekurve ergibt sich der Preis für die jeweilige Lieferstunde. Der Strompreis liegt knapp über den Grenzkosten des teuersten zur Lastdeckung benötigten Kraftwerks. Dieser Preis ist für alle Marktteilnehmer gleich. Die Differenz zwischen dem Marktpreis und den Grenzkosten der günstigeren Kraftwerke als das preissetzende ergibt den spezifischen Deckungsbeitrag dieser Kraftwerke.
Allerdings gibt es für den oben beschriebenen Mechanismus zwei Einschränkungen: bei extrem hohen Angebotsüberschuss und bei Stromknappheit. Hoher Angebotsüberschuss bedeutet, dass schon Wind, Sonne und Wasser ausreichen würden, um die Last zu decken. Dann ergeben sich mitunter sogar negative Spotpreise, was häufig sonntagmittags im Sommer passiert. Stromknappheit bedeutet, dass ohne die Kraftwerke eines einzelnen Anbieters die Last nicht gedeckt werden könnte. In dem Fall gibt es keinen Wettbewerb mehr und der Kraftwerksbetreiber kann seine Marktmacht ausnutzen, indem er extrem hohe Preise anbietet. Erkennbar ist das daran, dass die Preise deutlich über den Grenzkosten der Gasturbinen liegen (sog. Mark-Ups). Solche Situationen hat es vor 2009 häufiger gegeben, in den letzten Jahren nicht mehr, aber solche Phasen können in Zukunft häufiger auftreten.
Der Strompreis hängt somit nicht nur von Angebot und Nachfrage ab, sondern auch maßgeblich von Gas-, Kohle- und CO2-Preisen, bei denen es sich ihrerseits um Commodities mit starken Preisschwankungen handelt. Der Strompreis kann sogar steigen, obwohl die Nachfrage sinkt. Das ist auf anderen Märkten selten der Fall. Die Faktoren sind nicht unabhängig voneinander, insbesondere Gas-, Kohle- und CO2-Preis können sehr eng zusammenhängen. Das Gewicht der einzelnen Einflussfaktoren ist ebenfalls dynamisch. Durch den Fuel switch kann sich die Kraftwerkseinsatzreihenfolge sogar ändern. Liegen die Grenzkosten von Gas- und Kohlekraftwerken dicht beieinander, bewirken die Veränderungen von Angebot und Nachfrage nur sehr geringe Preisänderungen (z.B. im Februar 2024). Im Herbst 2022 war dieser Kostenunterschied extrem groß, so dass kleine Erhöhungen der Nachfrage große Preissprünge mit sich bringen konnten.
Ein hohes Kostenniveau bei den fossilen Energieträgern, wie es durch den Emissionshandel hervorgerufen wird, bedeutet für alle nicht-fossilen Kraftwerke sehr hohe Deckungsbeiträge. Vom Emissionshandel profitieren somit insbesondere Kernkraftwerksbetreiber und Betreiber großer Wasserkraftwerke.
In einem System mit sehr hohen Anteilen erneuerbarer Stromerzeugung kommt es häufig zu Stromüberschuss und Stromknappheit. Während der Stromknappheit wird Second-Hand-Strom, also Strom, der zuvor kurzfristig (Second-Hand Short), z.B. in Batterien als elektrochemische Energie, oder langfristig (Second-Hand Long), z.B. als chemische Energie, gespeichert worden ist, eingesetzt. Bei Stromüberschuss wird Strom umgewandelt und eingespeichert.
Alle Jahre wieder wird in der Energiepolitik eine Änderung des Strommarktdesigns gefordert und diskutiert. Das hier beschriebene Merit-Order-Prinzip wird als „ungerecht“ empfunden. Man würde gerne die Einsatzreihenfolge der Kraftwerke ändern oder den Preis nicht durch das zuletzt benötigte Kraftwerk für alle setzen lassen. Diese Diskussion verlaufen regelmäßig im Nichts.
Das liegt daran, dass das Merit-Order-Prinzip keineswegs von irgendeiner Ordnungsinstanz, sei es Regierungen, Behörden oder der Börse festgeschrieben worden ist, wie es von den Fordernden aufgrund von Unkenntnis unterstellt wird. Tatsächlich ist die Merit-Order das Ergebnis von drei impliziten Voraussetzungen:
- Jeder Anbieter kann mit jedem Nachfrager frei verhandeln und abschließen, der Markt ist transparent und offen, es herrscht vollständiger Wettbewerb, die Nachfrager dürfen sich nicht zu einem Nachfragemonopol zusammenschließen.
- Die Stromnachfrage ist vollkommen unelastisch, d.h. die Nachfragemenge ist unabhängig vom Preis. Das ist eine Besonderheit des Strommarktes und u.a. auf die beschränkten Speichermöglichkeiten zurückzuführen.
- Jeder Anbieter und jeder Nachfrager strebt nach dem ökonomischen Optimum, d.h. die Anbieter wollen möglichst hohe Preise erzielen und die Nachfrager möglichst wenig bezahlen.
Zumindest die dritte Voraussetzung wird gelegentlich angezweifelt, nach dem Motto, wer schon Gewinn macht, sollte doch zufrieden sein und nicht noch mehr machen wollen. Nun ja, die Realität ist eine andere.
Jeder Nachfrager würde zunächst bei den Anbietern mit den niedrigsten, variablen Kosten vorbeischauen. Diese wissen aber, dass es zu einer Deckung der Nachfrage auch die anderen Kraftwerkstypen brauchen wird, und ihre Preisforderung entsprechend hoch setzen. Die Nachfrager würden sich alle so lange überbieten, bis doch wieder die Grenzkosten des teuersten Kraftwerks von allen bezahlt werden. Die Börsenauktionen kürzen diesen Prozess sehr effizient ab.
Grundsätzlich gilt das Merit-Order-Prinzip auch in anderen Commodity-Märkten, allerdings kommt es dort auf die langfristigen Grenzkosten (einschließlich Fixkosten an).
Wer das Merit-Order-Prinzip abschaffen will, muss den Markt durch staatlich regulierte Preise ersetzen. Offenkundig sind nicht mehr allen Diskussionsteilnehmern das historische Versagen von Planwirtschaft geläufig.