Stromverbraucher sind mit den schlimmsten Befürchtungen in das Jahr 2023 gestartet. Es wurden exorbitante Strompreise, Gasknappheit und in der Folge auch Stromknappheit für möglich gehalten. Deswegen hatten sich die meisten Stromverbraucher ganz oder teilweise im Vorfeld mit Strompreisen abgesichert, die noch im Jahr 2021 dem Reich der Phantasie vorbehalten waren, nämlich mit 100 bis 500 €/MWh, wohingegen der Mittelwert der 20 Jahre zuvor nur bei 41,6 €/MWh lag. Die Hoffnung lag auf dem Strompreisbremsengesetz der Bundesregierung, das Preisspitzen abfedern sollte.
Tatsächlich ist es ganz anders gekommen. Die Spotpreise im Januar lagen bei rund 118 €/MWh, das war nur ein Bruchteil dessen, was am Terminmarkt erwartet worden war. Mit Schwankungen ging es auf dem Niveau am Spotmarkt weiter, im Juli waren dank hoher regenerativer Stromeinspeisung nur noch knapp 78 €/MWh zu verzeichnen. Dank eines stürmischen und entsprechend kostengünstigen Dezember lag der Mittelwert der Spotpreise 2023 bei ca. 95,50 €/MWh. Dafür gab es in 2022 den Strom am Terminmarkt zu keinem Zeitpunkt zu kaufen. Der Grenzwert der Strompreisbremse lag mit 130 €/MWh weit darüber. 2022 lag der mittlere Spotpreis noch bei 234,50 €/MWh.
Diese Zahlen sollten Anlass sein, das Geschehen am Strommarkt der letzten drei Jahre einmal kritisch zu hinterfragen. Haupttreiber des Strompreisanstiegs waren die gestiegenen Gaspreise, zunächst infolge der nie in Betrieb genommenen Pipeline Northstream 2, später aufgrund der Reduzierung der Gaslieferungen durch Russland, den Kriegsausbruch, drohende Sanktionen gegen Russland und schließlich den Anschlag und die Zerstörung der Pipelines Northstream 1 und 2.
Das war jedoch keineswegs der einzige Grund. Ein wesentlicher Faktor war der Anstieg der Preise im europäischen Emissionshandel (EU-ETS) von ca. 30 €/t CO2 Anfang 2021 auf über 80 €/t CO2 im Mittel 2022, in der Spitze auf ca. 100 €/MWh. Dieser Effekt ist jetzt, da die Gaspreise sich wieder in die Größenordnung der Vorkrisenzeit bewegt haben, sogar die Hauptursache dafür, dass die Strompreise immer noch doppelt so hoch sind, wie im Mittel zwischen 2002 und 2021.
Da mit den hohen Gaspreisen die Nachfrage nach Kesselkohle kurzfristig sprunghaft angestiegen ist, haben sich auch die Kohlepreise gegenüber dem langjährigen Mittel von ca. 70 €/t in der Spitze auf bis zu 400 €/t erhöht. Da der Kohlemarkt im Gegensatz zum Gasmarkt ein funktionierender Weltmarkt mit vielen Anbieter(länder)n ist, war absehbar, dass eine Erhöhung des Angebotes mittelfristig die Preise wieder deutlich reduzieren würde, was inzwischen auch weitgehend passiert ist. Aktuell notiert Kohle bei ca. 100 €/t.
Hinzu kam in 2021 und 2022 eine desaströse Verfügbarkeit der französischen Kernkraftwerke, größtenteils aufgrund von technischen Fehlern, z.T. auch wegen Kühlwasserproblemen. Zeitweise stand nicht einmal die Hälfte der französischen Kernkraftwerke zur Verfügung. Die Strompreise am französischen Markt waren in 2022 drastisch höher als in Deutschland; es wurde viel Strom nach Frankreich exportiert. In 2023 hat sich die Verfügbarkeit dramatisch verbessert. Zumindest im Sommer wurde in 2023 wieder Strom aus Frankreich importiert (im Saldo).
Marktmechanismen sind Ausgleichsmechanismen. Steigen die Preise exorbitant an, tritt vermehrt Angebot auf den Markt und die Nachfrage schrumpft, weil Nachfrager auf andere Produkte ausweichen oder den Bedarf einfach reduzieren. Genau das ist in 2022 und 2023 passiert. LNG-Lieferungen nach Europa wurden umgeleitet und ausgeweitet, die Produktion von Erdgas, insbesondere in Norwegen, erhöht. Über die kontinentalen Pipelines kam weiterhin Gas aus Russland, auch als LNG lieferten die Russen weiter. Gleichzeitig wurde der Gasverbrauch durch Kohle und Heizöl substituiert und der Verbrauch, insbesondere der Industrie deutlich reduziert, z.T. durch Verlagerung in andere Länder, z.T. durch Reduzierung der Produktion.
Der Effekt der Produktionsverlagerung und -reduzierung, auch als De-Industrialisierung bezeichnet, ist ebenso im Stromverbrauch zu beobachten. Offen ist, wieviel von diesem Verbrauchsrückgang vorübergehend ist, sich also bei wieder gesunkenen Preisen relativiert, und wieviel von Dauer ist und sogar noch zunimmt.
Diese De-Industrialisierung wirkt sich auch massiv auf den Bedarf an CO2-Zertifikaten aus. Die Preise sind auf unter 70 €/t CO2 zurückgekommen. Das könnte ein vorübergehender Effekt sein, aber auch der Anfang eines noch viel weitergehenden Preisrückgangs.
Die Terminpreise für eine Stromlieferung mit Base-Profil in den Folgejahren sind im Jahresverlauf drastisch gesunken. Diese Entwicklung hat sich auch in den ersten Januartagen fortgesetzt. Von den Strompreisen des Vorkrisenniveaus ist das aber immer noch weit entfernt.