Börsenpsychologie im Energiemarkt

Unternehmen, die viel Energie kostengünstig beschaffen oder möglichst teuer verkaufen wollen, sollten mit der Börsenpsychologie im Energiemarkt vertraut sein. Börse ist zu großen Teilen Psychologie, das ist bekannt. Hierüber gibt es zahllose Untersuchungen und Bücher. Im Energiemarkt ist es nicht anders.

Der Theorie nach sind im Energiehandel nur Menschen tätig, die 100% rational, auf Faktenwissen und nüchterne, sachliche Analyse gestützte Entscheidungen treffen. In der Praxis haben diese Menschen die gleichen psychologischen Eigenschaften wie alle anderen auch. Fachwissen, Intelligenz und Erfahrung sind zwar höher, helfen aber nicht unbedingt weiter.

Eine Einschätzung des aktuellen Marktpreisniveaus und dessen weitere Entwicklung mögen vordergründig auf den zur Verfügung stehenden Fundamentaldaten beruhen, aber Menschen sind keine Maschinen, sondern von Emotionen, Stimmungen, Ansichten, Wertvorstellungen und Wünschen geprägt. Eine neutrale, von allen subjektiven Elementen befreite Bewertung einer Situation durch Daten und deren Entwicklung existiert praktisch nicht. Eine Ausnahme besteht, wenn diese Daten mathematisch oder in Algorithmen fixiert zu der Bewertung führen, wie es in Computermodellen üblich ist.

Das Ausmaß der „Sachlichkeit“ einer Person, die eine solche Bewertung durchführt, ist unabhängig von deren kognitiven Fähigkeiten. Höhere Intelligenz bedeutet nicht, dass jemand besonders frei von Emotionen auf eine Sachlage blickt. Eine Korrelation zwischen Intelligenz im klassischen Sinne und Erfolg an der Börse ist empirisch nicht nachweisbar. Entscheidend ist die Fähigkeit, irrationale Faktoren zumindest weitgehend auszublenden und den Blick unbeirrt auf die Fakten zu richten.

Das ist eine enorme Herausforderung. Jeder, der im Börsenhandel direkt oder indirekt tätig ist, wird mehr oder weniger mit Nachrichten aus und über diesen Handel konfrontiert. Diese Nachrichten enthalten offen oder versteckt Bewertungen der Autoren oder von Menschen, die in den Nachrichten zitiert werden. Diese Bewertungen beeinflussen die eigene Einschätzung. Bei ruhigem Marktgeschehen und wenig Nachrichten, gegebenenfalls auch mit unterschiedlichem Tenor, ist dieser Effekt überschaubar.

Anders sieht es aus, wenn es deutliche Preisausschläge gibt, was regelmäßig mit hoher Nachrichtenintensität einhergeht. Beispiele sind die Energiepreisentwicklungen während der Finanzkrise 2008 oder 2022 während der Gaskrise. Wer täglich mit Meldungen über steigende Preise, Aussagen von vermeintlichen Experten (meist nur Trittbrettfahrer und Aufmerksamkeitssüchtige), dass die Preise noch weiter steigen können, und Gesprächen darüber, wie schlimm alles ist, konfrontiert wird, wird irgendwann von Panik erfasst, was mit Handlungszwang einhergeht. Wenn das dritte Mal jemand „Feuer“ ruft, laufen Sie auch dann weg, wenn Sie gar kein Feuer gesehen haben.

Das führt dann dazu, dass Menschen ein Jahresbase für mehr als 400 €/MWh (was zu dem Zeitpunkt dem Zehnfachen des langjährigen Mittels entsprach) kaufen, weil sie befürchten, es könne noch schlimmer kommen.

Die Haupttriebfedern im Börsenhandel sind überall gleich: Angst und Gier. Diejenigen, die nicht im Energiehandel tätig sind, weil sie Strom (für ihre Kunden) benötigen oder erzeugen, sondern einfach nur, um mit Kaufen und Verkaufen Geld zu verdienen (was als Eigenhandel oder Spekulation bezeichnet wird), wissen dies zu nutzen. Diese Finanzindustrie erzeugt mit ihrer Marktmacht Preisbewegungen, die von „Nachrichten“ und Markteinschätzungen/Analysen kommunikativ begleitet werden. Dadurch werden tatsächliche Änderungen der Fundamentaldaten in überhöhtem Maße in Preisbewegungen umgesetzt.

Erreichen diese Preisbewegungen ein gewisses Ausmaß, werden bei den Marktakteuren Angst und Gier geweckt. Bei steigenden Preisen haben die Stromverbraucher Angst, dass ihnen die Preise davonlaufen und die Stromerzeuger wittern das große Geld und warten mit dem Verkaufen. Schon ist die Aufwärtsbewegung da. So funktioniert die Börsenpsychologie im Energiemarkt.

Häufig wird sich dabei zu Nutze gemacht, dass viele Marktteilnehmer die quantitativen Auswirkungen von Ereignissen nicht einschätzen können. So werden z.B. vorübergehend unter dem saisonüblichen Durchschnitt liegende Temperaturen als Begründung für steigende CO2-Preise herangezogen. Klar, es muss ja mehr geheizt werden – sofern denn mit Strom geheizt wird, denn Öl- und Gasheizungen fallen nicht unter das EU-ETS1. Wenn dann ein paar wärmere Tage kommen, führt das nicht zu einem Preisrückgang. Der Mehrbedarf an CO2-Zertifikaten aufgrund dieser stochastischen Temperaturschwankung ist bezogen auf die gigantische CO2-Menge im EU-ETS1 nicht einmal in homöopathischer Größenordnung.

Im Ölmarkt lief das lange Jahre nach folgendem Schema: Im Frühling mussten die Preise steigen, weil „Driving season“ war und mehr Kraftstoff in Autos verbraucht wurde, im Sommer, weil dann Hurricane-Saison war und im Herbst wegen der bevorstehenden Heizsaison. Also immer.

Gegen das Hereinfallen auf solche Preisblasen oder Preisbläschen helfen zwei Dinge: einerseits umfassende Kenntnis der Zusammenhänge im Markt in qualitativer und vor allem auch quantitativer Hinsicht und andererseits die Vermeidung von durch Angst und Gier motivierten Entscheidungen durch Übertragung der Entscheidungen an einen Dritten (in definiertem Rahmen).

Gier sorgt dafür, dass Menschen oft zu lange auf sinkende Preise warten, Angst sorgt dafür, dass Menschen die innere Ruhe fehlt, auf sinkende Preise zu warten. Regelmäßig wird unbewusst unterstellt, dass die Preisentwicklung an der Börse berechtigt sein muss. Stimmt aber nicht immer. Im Börsenhandel ist die Beharrlichkeit, an den eigenen, sachlichen Bewertungen festzuhalten, entscheidend. Menschen, die nur Trends hinterherlaufen, um nichts zu verpassen, haben ganz schlechte Karten.

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