Missverständnisse beim Merit-Order-Prinzip im Strommarkt

Bei der Diskussion über die Strompreisbildung am Spotmarkt wird immer wieder auf das Merit-Order-Prinzip verwiesen. Dabei sind regelmäßig drei Missverständnisse zu beobachten:

  1. Es wird angenommen, dass es sich beim Merit-Order-Prinzip um die Folge einer politischen oder sonstigen Festlegung handelt.
  2. Es wird angenommen, dass das Merit-Order-Prinzip eine Besonderheit des Strommarktes ist.
  3. Es wird angenommen, dass das Merit-Order-Prinzip immer gilt.

Alle drei Annahmen sind falsch. Unter Merit-Order-Prinzip wird verstanden, dass das Kraftwerk mit den höchsten kurzfristigen Grenzkosten, das zur Lastdeckung in einer Lieferperiode benötigt wird, den Preis durch seine Grenzkosten bestimmt.

Merit-Order-Prinzip als Ergebnis eines freien Marktes

Zur Veranschaulichung des Merit-Order-Prinzips dient die folgende Darstellung:

Die Grenzkosten für die erneuerbaren Energien und Kernenergie liegen unter 10 €/MWh, die für Braunkohlekraftwerke z.B. bei 40 €/MWh, die für Steinkohlekraftwerke bei 50 €/MWh und die für GUD-Kraftwerke bei 60 €/MWh. Gäbe es keinen organisierten Markt mit einer Auktion (Börse), so würden die Anbieter und die Nachfrager bilateral miteinander verhandeln, was bei der Vielzahl der Akteure recht aufwändig wäre. Die Anbieter der ersten vier Gruppen würden anhand der Anfragen schnell feststellen, dass diese ohne die Mengen der GUD-Kraftwerke nicht gedeckt werden kann. Tatsächlich sind die Daten über das verfügbare Angebot aufgrund von Transparenzpflichten öffentlich zugänglich.

Die Nachfrager würden um die billigeren Mengen buhlen und sich gegenseitig solange überbieten, bis der Preis dann doch bei den Grenzkosten des GUD-Kraftwerks angelangt ist.

Voraussetzung ist freier Wettbewerb, d.h. jeder darf mit jedem verhandeln und abschließen, sowie Gewinnstreben aller Akteure, d.h. es gibt keine Anlagenbetreiber, die aus reinem Gutmenschentum mit weniger als den 60 €/MWh zufrieden sind.

Um den Verhandlungsprozess deutlich abzukürzen, gibt es den Börsenhandel. Der Börsenhandel kennt zwei Varianten: den fortlaufenden Handel und die Auktion. Beim fortlaufenden Handel gibt es individuelle Preise für jedes Geschäft, bei der Auktion gibt es einen Preis für alle. Die Auktion ist hinsichtlich des Transaktionsaufwandes vorteilhafter.

Es hat von verschiedenen Seiten immer wieder Kritik am Merit-Order-Prinzip gegeben, weil es als „ungerecht“ empfunden wurde. Dabei wird regelmäßig übersehen, dass am Spotmarkt nur die Grenzkosten abgebildet werden (Energy-Only-Market, EOM), nicht jedoch die Fixkosten, die bei Kraftwerken mit niedrigen Grenzkosten sehr hoch sind. Versuche, andere Mechanismen vorzuschreiben sind zum Scheitern verurteilt. Dies gelänge nur mit einer staatlichen Preisfestsetzung anstelle von Markt und Wettbewerb. Wohin das führt, ist aus Planwirtschaften bekannt.

Merit-Order-Prinzip in anderen Commodity-Märkten

Das Merit-Order-Prinzip gilt nicht nur im Strommarkt, sondern auch in anderen Commodity-Märkten, in denen freier Wettbewerb herrscht. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass es in anderen Märkten nicht auf die kurzfristigen Grenzkosten ankommt, sondern auf die langfristigen. Die Besonderheit im Strommarkt beruht auf der sehr teuren Speicherbarkeit von Strom in anderen Energieformen (Batterien speichern elektrochemische Energie und nicht elektrische Energie).

Die Gesamtkosten für die Förderung von Erdöl hängen sehr stark von der Lagerstätte, deren Lage, Tiefe, Gestein und Größe ab. Lagerstätten auf der arabischen Halbinsel sind sehr groß, so dass viele Jahrzehnte gefördert werden kann, und die Tiefe ist gering. Bohrkosten steigen exponentiell mit der Bohrtiefe. Die Vollkosten der Erdölproduktion dort werden auf unter 20 $/b geschätzt.

Die maximale Fördermenge aus solch kostengünstigen Lagerstätten reicht zur Bedarfsdeckung aber nicht aus. Stattdessen müssen auch deutlich teurere Lagerstätten genutzt werden. Öl aus der Nordsee ist deutlich teurer. Öl aus Tiefseeförderung (Golf von Mexiko, 4.000 m) ist noch einmal deutlich teurer. Die teuerste Ölförderung ist die aus kanadischen Ölsanden und liegt bei 60-70 $/b.

Da die kanadischen Ölsande seit vielen Jahren unverzichtbar sind, liegt der Ölpreis auch meist in dieser Größenordnung. Herrscht ein großes Überangebot am Markt, liegen die Preise darunter, ist Öl knapp, liegen sie deutlich darüber. Im ersten Fall reduzieren zuerst die teuersten Ölfelder die Produktion und die Erschließung neuer Lagerstätten wird zurückgefahren.

Viele Ölfelder würden auch mit Preisen von 20-30 $ gut leben können. Nur werden sie dafür nicht verkaufen. Der Reichtum im mittleren Osten beruht auf dem Merit-Order-Prinzip und den sehr niedrigen Kosten der Ölförderung dort.

Für andere Rohstoffe, wie zum Beispiel Lithium gilt das Merit-Order-Prinzip auch. Die teuersten Vorkommen bestimmen den Preis. Eine Ausweitung der weltweiten Förderung bedeutet also nicht unbedingt niedrigere Preise. Entscheidend sind die Kosten für den Abbau.

Gültigkeit des Merit-Order-Prinzips

Das Merit-Order-Prinzip findet im Strommarkt nur so lange Anwendung, wie es ausreichenden Wettbewerb der Anbieter untereinander gibt. Hierfür kommt es auf die konkrete Situation in der jeweiligen Lieferperiode (Stunde bzw. Viertelstunde) an.

Die Annahme, jeder Kraftwerksbetreiber sei verpflichtet, seine Kapazitäten anzubieten, sogar zu Grenzkosten, ist falsch. Die Verpflichtung, Kraftwerkskapazitäten geringfügig über den Grenzkosten anzubieten, besteht nur für marktbeherrschende Unternehmen. Nach Einschätzung des Bundeskartellamtes ist derzeit kein Kraftwerksbetreiber in Deutschland marktbeherrschend.

Außerdem hat das Bundeskartellamt bereits 2016 klargestellt, dass einzelne Preisspitzen wettbewerbsrechtlich nicht relevant sind. Kraftwerksbetreiber können es also in Zeiten knappen Angebotes „versuchen“ und einfach mal „Mondpreise“ anbieten. Da jeder weiß, wann es knapp ist, versuchen das dann meist mehrere, so dass es auch mal klappt.

Auch die Annahme, Kraftwerksbetreiber seien für die Versorgungssicherheit verantwortlich, ist falsch. Für die Versorgungssicherheit sind die Übertragungsnetzbetreiber verantwortlich. Daneben sind Bilanzkreisverantwortliche verpflichtet, ihr Energiemengenkonto auszugleichen.

Auch wenn das Stromangebot so groß ist, dass keine fossilen Kraftwerke zur Lastdeckung erforderlich sind (sogenannte Überschusszeiten) und damit die Grenzkosten des teuersten, benötigten Kraftwerks bei Null oder knapp darüber sind, greift das Merit-Order-Prinzip nicht. Negative Spotpreise machen das besonders deutlich.

Mit zunehmender regenerativer Stromerzeugung werden Knappheitszeiten und Überschusszeiten immer häufiger auftreten. Die Preise hierfür lassen sich nicht mit Hilfe des Merit-Order-Prinzips prognostizieren.

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